Zitiert aus: „In einem anderen Licht – Von der Kunst des Lebens und Sterbens“ von Henri J. M. Nouwen, Freiburg: Herder Spektrum, Band 6306, Neuausgabe 2011, ISBN: 978-3-451-06306-0, Seite 60-62.
[…] Ich möchte mit einer kleinen Geschichte abschließen, die mir unlängst ein Freund erzählt hat. Sie handelt von Zwillingen, Bruder und Schwester, die sich vor ihrer Geburt im Schoß ihrer Mutter unterhalten.
Die Schwester sagte zu ihrem Bruder: „Ich glaube an ein Leben nach der Geburt!“ Ihr Bruder erhob lebhaft Einspruch: „Nein, nein, das hier ist alles. Hier ist es schön dunkel und warm, und wir brauchen uns lediglich an die Nabelschnur zu halten, die uns ernährt.“
Aber das Mädchen gab nicht nach: „Es muß doch mehr als diesen dunklen Ort geben; es muß anderswo etwas geben, wo Licht ist und wo man sich frei bewegen kann.“ Aber sie konnte ihren Zwillingsbruder immer noch nicht überzeugen. Dann, nach längerem Schweigen, sagte sie zögernd: „Ich muß noch etwas sagen, aber ich fürchte, du wirst auch das nicht glauben: Ich glaube nämlich, daß wir eine Mutter haben!“
Jetzt wurde ihr kleiner Bruder wütend: „Eine Mutter, eine Mutter!“, schrie er. „Was für ein Zeug redest du denn daher? Ich habe noch nie eine Mutter gesehen, und du auch nicht. Wer hat dir diese Idee in den Kopf gesetzt? Ich habe es dir doch schon gesagt: Dieser Ort ist alles, was es gibt! Warum willst du immer noch mehr? Hier ist es doch alles in allem gar nicht so übel. Wir haben alles, was wir brauchen. Seien wir also damit zufrieden.“
Die kleine Schwester war von dieser Antwort ihres Bruders ziemlich erschlagen und wagte eine Zeitlang nichts mehr zu sagen. Aber sie konnte ihre Gedanken nicht einfach abschalten, und weil sonst niemand da war, mit dem sie hätte darüber sprechen können, sagte sie schließlich doch wieder: „Spürst du nicht ab und zu diesen Druck? Das ist doch immer wieder ganz unangenehm. Manchmal tut es richtig weh.“
„Ja“, gab er zur Antwort, „aber was soll das schon heißen?“ Seine Schwester darauf: „Weißt du, ich glaube, daß dieses Wehtun dazu da ist, um uns auf einen anderen Ort vorzubereiten, wo es viel schöner ist als hier und wo wir unsere Mutter von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Wird das nicht ganz aufregend sein?“
Ihr kleiner Bruder gab ihr keine Antwort mehr. Er hatte endgültig genug vom dummen Geschwätz seiner Schwester und dachte, am besten sei es, einfach nicht mehr auf sie zu achten und zu hoffen, sie würde ihn in Ruhe lassen.
Diese kleine Geschichte kann uns vielleicht helfen, den Tod mit neuen Augen zu sehen. […]
Hieronymus Bosch:
Visionen des Jenseits: Der Aufstieg der Gesegneten, 1505–1515
Die beiden folgenden Bücher über Nahtoderfahrungen haben mir sehr gut gefallen – eine sehr tröstliche Lektüre: